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Interview von Königshausen & Neumann mit M. L. Pfeifer über ihre Kafkaesken Dramen

02/23

Marion Leonie Pfeifer ist Regisseurin und Autorin. Die thematischen Schwerpunkte ihres Schaffens sind unter anderem Rassismus, Postkolonialismus, Menschenhandel. Wie diese schwerwiegenden Themenkomplexe ineinander verwoben sind, zeigt sie, in künstlerischer Verarbeitung, aber gleichzeitig basierend auf der Realität dieser Problematiken, in Operation Ratlines / Josefine oder der Gesang der Greisin, Sahara No Man’s Land / Der Aufstand der Mädchen, bei Königshausen & Neumann erschienen.

Frau Pfeifer, in Ihrem Band finden wir zwei Erzählungen. Die Schauplätze und Protagonisten unterscheiden sich stark, aber gibt es auch Gemeinsamkeiten, die diese beiden als Bogen überspannen?

In beiden Erzählungen haben destruktive, charismatische Mächte die Führung übernommen, die Wiedergänger der Historie. Unterprivilegierte Menschen verfangen sich in den Mühlen der Geschichte. Die Protagonistinnen werden an den Abgrund des Menschlichen gedrängt, sie versuchen in einer Realität aus Gewalt und Verzweiflung zu überleben. In einer wilden und düsteren Welt kämpfen sie um Selbstermächtigung.

Der Untertitel lautet Kafkaeske Dramen. Was genau verstehen Sie darunter, was macht diese Geschichten kafkaesk?

Ich habe versucht die politischen, sozioökonomischen und psychologischen Ebenen der Erzählungen in eine komplexe Sprache zu übersetzen.

Sahara No Man’s Land wurde schon als Hörspiel vertont. Was hat Sie bewogen, nun den Text in einem Buch zu publizieren?

Ich schrieb beide Dramen und entschied mich, sie erst zu vertonen. Es ist eine große Freude für mich, bei K&N veröffentlicht zu werden.

Weibliche Figuren scheinen in den beiden Geschichten eine besondere Position einzunehmen. Was bewirkt dieser Blick auf Frauen?

Frauen spielen in meinen Werken eine zentrale Rolle. Sie sind die meist Leidtragenden in einem Komplex aus Kapitalismus und Globalisierung. Seit Jahren befasse ich mich in meinen filmischen Arbeiten mit Menschenhandel, Flucht und Zwangsprostitution. Ich bin im Aktionsbündnis gegen Frauenhandel [Polizeiorgane / Justizbeamte / NRO-Mitarbeiterinnen]. Das unfassbare Leid der Frauen und Kinder hat mich zum Schreiben gebracht.

In Sahara No Man´s Land versuchen die Zwillinge Loveth und Grace aus Edo State in einer Realität aus Gewalt und Grauen zu überleben. Mit Lucy, einer Leidensgenossin, schmieden sie in der blauen Stadt einen mörderischen Plan, um dem Kreislauf aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu entkommen. Der Aufstand beginnt… Die Zwillinge stehen exemplarisch für Tausende von ähnlichen Schicksalen. Ein Großteil der Opfer kommt aus Benin City, es ist ein Drehkreuz des internationalen Menschenhandels. Opferzeuginnen schildern ihren Leidensweg durch die Wüste. Abgründe menschlichen Daseins tun sich auf; peu à peu setzt ein Prozess ein, den man psychische Liquidierung nennen könnte.

Die traurige Realität ist, Europa profitiert direkt und indirekt vom Menschenhandel. Die Sexindustrie ist ein Milliardenmarkt. Menschenhandel blüht und hat im Umfang Drogen- und Waffenhandel überholt. „Trafficking in Human Beings“ funktioniert nach den Gesetzen der Marktwirtschaft. Die Nachfrage bestimmt das Angebot und die günstigen Angebote erhöhen die Nachfrage. Wirtschaftliche Ausbeutung, ob in der Zwangsprostitution oder in der Arbeitssklaverei ist ein sicherer Wachstumsmarkt.

Sagen Sie uns bitte noch ein paar Worte zu Operation Ratlines / Josefine oder der Gesang der Greisin.

Ich stelle dystopische Welten fiktional und real gegenüber. Die Straßensängerin Josefine, aus einer unbestimmten Zeit kommend, durchstreift kontaminierte Landschaften, die Zone der Kolonien. Monsieur M, der Gouverneur „entdeckt“ Josefine. Er instrumentalisiert sie für „die Sache“. Sie avanciert von der Straßensängerin zur gefeierten Künstlerin der Kolonie. Die angesehenen Bürger der Stadt S. geben sich zur Zerstreuung den Fieberkonkurrenzen hin. Völkermord und Sklaverei sind keine Monstrositäten vergangener Jahrhunderte, sondern Gegenwartsrealität.

Mit Hilfe der Operation Ratlines wurden NS-Verbrecher, unter ihnen Adolf Eichmann und Josef Mengele, ins Ausland geschleust. Nazis entkamen durch die Zusammenarbeit amerikanischer, britischer und vatikanischer Geheimdienste.

Das Gespräch führte Jasmin Stollberger

Marion Leonie Pfeifer. Copyright: MatreEdition